Loslassen
Eine Frau fährt auf dem Beifahrersitz ihres Autos einen Koffer spazieren. Der Koffer hat ihrem überraschend verstorbenen Mann gehört. Dass er auch lange nach seinem Tod immer noch einen festen Platz auf ihrem Beifahrersitz hat, ist dabei nicht nur ein Zeichen ihrer Liebe. Es liegt auch an ihrer Angst vor dem, was dieser Koffer birgt. Er wird ihr, das ahnt sie, von dem bisher vor ihr verborgenen Leben ihres Mannes mit einer anderen Frau in Rom erzählen. Dort hatte ihr Mann oft beruflich zu tun. Und so fährt sie immer weiter seinen Koffer spazieren – mit dem, was sie festhalten will genauso wie mit dem, was sie lieber gar nicht wissen will. Bis die Frau, von der Zsuzsa Bánk in ihrem Roman „Die hellen Tage“ erzählt, eines Tages so weit ist: Sie kann den Koffer öffnen und ansehen, was gewesen ist – so weh das auch erstmal tut. Und dadurch kann sie es dann auch loslassen. Den Platz auf dem Beifahrersitz ihres Autos freimachen und den in ihrem Leben auch.
Wie oft halten wir furchtsam an Dingen fest, die uns letztlich daran hindern, dass wir uns Neuem öffnen! Im Bibelwort für die vor uns liegende Woche heißt es: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein. Wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ (Johannes 12, 24). Ich lese das auch als eine Ermutigung zum Loslassen mit der Perspektive, dass daraus etwas gutes Neues erwachsen kann und Gott uns dabei begleitet. Unter dieser Verheißung wünsche ich uns Kraft und Mut, loszulassen, was wir nicht halten können oder wollen und Neugier auf das, was daraus alles entstehen kann. In unserem persönlichen Leben, in unserer Gesellschaft, in unserer Kirche.
Silke Kohlwes, Pfarrerin in der Stadt- und Johanneskirchengemeinde Bad Hersfeld